Geschichtsprojekt Opferforschung

Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten

Ein groß angelegtes historisches Forschungsprojekt untersucht seit 2017 tausende Hirnschnitte aus Sammlungen mikroskopischer Präparate der Max-Planck-Institute für Hirnforschung und für Psychiatrie, die von Opfern des Nationalsozialismus stammen. Ziel ist, den Opfern einen Namen zu geben und ihre Gehirne, die für die Forschung missbraucht wurden, nach Abschluss des Projekts würdig und im Abstimmung mit Familien und Opferverbänden zu bestatten. Die bestehende Gedenkstätte, die seit 1990 auf dem Münchner Waldfriedhof existiert, wird erweitert und neu gestaltet. Eine Datenbank, Forschungsbände und Gedenkbücher werden ab 2026 umfassende Informationen bieten und die Erinnerung an die Opfer und ihre Schicksale bewahren.

Historischer Hintergrund

Der Aufschwung der Hirnforschung zu einer modernen wissenschaftlichen Disziplin gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass Forschende mehr und mehr Hirnpräparate und -schnitte von Tieren und Menschen anfertigten und sammelten. Denn diese waren das wichtigste methodische Hilfmittel, um Aufbau, Strukturen, Entwicklungen und krankhafte Veränderungen des Gehirns zu beschreiben und zu analysieren. In Pathologie, Hirnforschung und Psychiatrie werden Hirnschnitte nach wie vor verwendet. Digitalbasierte bildgebende Verfahren bieten allerdings inzwischen weitaus umfassendere Möglichkeit, das Gehirn und seine Struktur zu untersuchen.

Auch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin und das für Psychiatrie in München – beide ab 1948 Max-Planck-Institute – sammelten seit den 1920er-Jahren Hirnschnitte für Forschungszwecke. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung unter seinem Direktor Hugo Spatz war das vor allem die neuropathologische Abteilung von Julius Hallervorden; am Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie unter Leitung von Ernst Rüdin war es die Hirnpathologische Abteilung von Willibald Scholz.

Im Nationalsozialismus wurden beide Kaiser-Wilhelm-Institute zu skrupellosen Profiteuren eines Systems, das Menschen aus rassistischen und eugenischen Gründen millionenfach ermordete. Beide Institute erhielten in den Jahren 1939 bis 1945 eine große Zahl von Gehirnen von Opfern der Krankenmordaktionen („Euthanasie“), aus psychiatrischen Heil- und Pflegeeinrichtungen. In der sogenannten „Kindereuthanasie“ wurden rund 5.000 Kinder mittels überdosierter Medikamentengabe ermordet. Im Zuge der „Aktion T4“ wurden zwischen 1940 und 1941 über 70.000 Psychiatriepatienten und Patientinnen in Tötungsanstalten deportiert. Die Forschenden an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Hirnforschung und für Psychiatrie waren nicht nur Mitwisser und Profiteure dieser Morde, sondern sie trugen durch ihre histopathologischen Forschungen auch zu deren wissenschaftlicher Legitimation bei.

Verdrängung der NS-Vergangenheit

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde insbesondere Julius Hallervordens Beteiligung an den „Euthanasie“-Verbrechen im Rahmen der Nürnberger Prozesse thematisiert, doch stieß dies im Nachkriegsdeutschland auf wenig öffentliche Resonanz. Auch in der MPG setzte man auf Verschweigen und Verdrängen. Die belasteten Forscher der beiden Kaiser-Wilhelm-Institute wurden, wie auch die Forschungseinrichtungen selbst, geräuschlos in die MPG übernommen.

1984 konnte der Historiker und Journalist Götz Aly nachweisen, dass sich in den Sammlungen des MPI für Hirnforschung in Frankfurt Hirnschnitte von „Euthanasie“-Opfern befanden. Zu Beginn des Jahres 1989 berichtete Aly in einem Artikel in der „Zeit“ über die Sammlung Hallervordens und die Widerstände der MPG gegen seine Recherchen. Unmittelbar zuvor hatte die Kultusministerkonferenz der Länder auf internationalen Druck hin den Beschluss gefasst, alle Präparate von potenziellen NS-Opfern aus den Sammlungen deutscher Universitäten zu entfernen. Daraufhin entschied sich die Max-Planck-Gesellschaft die Präparate zu bestatten.

Beisetzung der Hirnschnitte 1990 und Beginn der Aufarbeitung

Die Direktoren des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung Wolf Singer und Heinz Wässle entschieden 1989, alle Präparate der Sammlungen Hallervordens aus den Jahren 1933 bis 1945 komplett bestatten zu lassen, allerdings ohne die Herkunft der Präparate und die Identität möglicher Opfer zu klären. Die zugehörigen Krankenakten wurden zur späteren historischen Aufarbeitung dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft übergeben.

Im Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München wies der damalige Leiter Georg W. Kreutzberg seine Mitarbeiterin Elisabeth Rothemund an, alle Präparate von mutmaßlichen Opfern aus der umfangreichen Münchner Hirnschnittesammlung zu entfernen, um die Präparate anschließend zu bestatten. Während in Frankfurt am Main also – zumindest aus damaliger Sicht – weitgehend Tabula rasa gemacht wurde, ging man in München selektiv vor, allerdings ebenfalls ohne die Herkunft der Hirnpräparate und die Todesumstände der Patienten, von denen die Präparate stammten, zu klären.

Insgesamt wurden 1990 rund 150.000 Hirnschnitte von schätzungsweise 4.000 Menschen auf dem Münchener Waldfriedhof bestattet. Ein Gedenkstein erinnert seitdem an die Opfer. In seiner Ansprache bei der Gedenkfeier auf dem Münchener Waldfriedhof am 25.5.1990 mahnte der damalige MPG-Präsident Heinz Staab die „Selbstbegrenzung der Forschung“ an.

Sein Nachfolger Hubert Markl veranlasste ab 1997 die umfassende Aufarbeitung der Geschichte der KWG im Nationalsozialismus. Auch die Geschichte der biowissenschaftlichen Institute und ihre Mitschuld an den NS-Verbrechen wurde in diesem Rahmen detailliert erforscht, darunter die Geschichte der beiden MPI für Hirnforschung und für Psychiatrie. Als Zeichen der Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“-Aktionen, die für die Hirnforschung missbraucht wurden, ließ die MPG im Jahr 2000 außerdem zusammen mit dem Max-Delbrück-Centrum und der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Denkmal am ehemaligen Standort des KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch errichten.

 

Neue Funde im Jahr 2015 und Gesamtrevision

2015 stieß Heinz Wässle, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, bei Nachforschungen im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin auf hundert Hirnschnitte aus der Zeit von 1938 bis 1967, von denen rasch klar wurde, dass sie aus der Sammlung Julius Hallervordens und dem KWI für Hirnforschung stammten. Die Schnitte waren erst 2001 mit einer Abgabe des Neurologischen Instituts am Universitätsklinikum Frankfurt am Main (Edinger Institut) in das Archiv der MPG gelangt. Rasch wurde klar, dass darunter auch bislang unbekannte Hirnschnitte von „Euthanasie“-Opfern waren.

Als Reaktion auf diesen Fund setzte der damalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann eine Kommission ein, die Nachforschungen an allen Instituten der Max-Planck-Gesellschaft initiierte, um zu klären, ob sich dort noch weitere Präparate von möglichen NS-Opfern befänden. So geriet neben dem MPI für Hirnforschung erneut auch das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in den Blick. Eine Begehung im Jahr 2016 erhärtete den Verdacht, dass auch hier nach wie vor Gehirne und Hirnschnitte von NS-Opfern lagerten. Sie waren schon in den 1990er-Jahren als Verdachtsfälle identifiziert worden und hätten daher eigentlich bestattet werden sollen.

Diese Gesamtrevision ergab keine Hinweise auf Präparate von NS-Opfern an weiteren Max-Planck-Instituten.

Das Opferforschungsprojekt

Um die Provenienz aller Hirnpräparate in den Sammlungen der Max-Planck-Gesellschaft umfassend zu klären, schlug die Präsidentenkommission im Frühjahr 2016 vor, eine Gruppe unabhängiger Experten für ein umfassendes Forschungsprojekt zu gewinnen. Daraufhin konstituierte sich das Projekt „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten: Hirnpräparate in Instituten der Max-Planck-Gesellschaft und die Identifizierung der Opfer“.

Es wird seit 2017 durchgeführt von Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien und Paul J. Weindling vom Department of History, Philosophy, and Religion an der Oxford Brookes University. Gerrit Hohendorf vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München, der seit 2017 ebenfalls in das Projekt eingebunden war, verstarb 2021. Seine Nachfolge als Projektleiter übernahm Philipp Rauh, ebenfalls vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TU München. Patricia Heberer-Rice vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. und  Volker Roelcke vom Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Gießen stehen dem Projekt beratend zur Seite.

Die Max-Planck-Gesellschaft finanziert das Projekt seit 2017 mit einer Summe von fünf Millionen Euro. Laut Zwischenbericht von 2023 konnte die Gruppe bereits die Mehrzahl der gesichteten Schnitte näher bestimmen. Die Veröffentlichung der Ergebnisse ist für Sommer 2026 geplant.

Den Opfern ihre Namen geben

Ziel des Projekts ist die Klärung der Herkunft von Hirnpräparaten, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Instituten der Kaiser-Wilhelm- bzw. der Max-Planck-Gesellschaft gelangten. Weiterhin werden die Identität der Opfer ermittelt und ausgewählte Biographien rekonstruiert. Auch der Missbrauch der Hirnschnitte für Forschungszwecke, der vermutlich bis in die 1970er-Jahre erfolgte, soll aufgeklärt werden. Weiterhin gilt es die Forschungsnetzwerke vor und nach 1945 zu rekonstruieren, in denen eine derart unethische Forschungspraxis möglich war. Diese Informationen werden in einer Datenbank bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle gesammelt und auf diesem Weg ab Sommer 2025 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Das Projekt konzentriert sich primär auf die Opfer und ihre Schicksale. Es will diesen Menschen ihre Identität und so einen Teil ihrer Würde zurückgeben. Diese Zielsetzung steht im Einklang mit dem neuen Anspruch der MPG an ihre institutionelle Vergangenheitspolitik. Dazu gehört auch die würdige Beisetzung der Hirnpräparate auf dem Münchner Waldfriedhof. Die dort bestehende Grabstätte von 1990 wird dafür in den nächsten Jahren neu gestaltet. Entstehen soll ein Ort des Gedenkens, der auch historische Informationen bietet und einlädt zur Reflexion über ethische Fragen an die Wissenschaft.

Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München wird ein Lern- und Gedenkort eingerichtet, um die historische Forschung nach der Beendigung des Opferforschungsprojektes fortzuführen und für die Bildungsarbeit zur Medizingeschichte und Wissenschaftsethik.

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